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Rezensionen

Trümmer

Trümmer

Früher war gestern

Früher war gestern

Trümmer wollten mal eine neue Jugendbewegung starten. Damals, vor sieben Jahren, als sie ihr selbstbetiteltes Debüt herausbrachten. Nun sind sie gar nicht mehr so ganz jung, sondern stehen sozusagen im Leben, in dem sie wahlweise Theatermusik machen, ein Label betreiben oder als Arzt arbeiten. Und vor allem sind in den letzten Jahren einige bemerkenswerte Bewegungen entstanden, die die Verhältnisse anprangern: Von MeToo über Black Lives Matter bis zu den Fridays for Future. Was machen Trümmer also nun? Musik, ist klar. Denn es ist ja nichts gut oder so. »Ich schau mich um und seh eine Welt / In der nichts stimmt und mir nichts gefällt / Und ich denk: Es ist alles zu spät«, singt Paul Pötsch ganz zu Anfang des Albums »Früher war gestern«: Er wäre gerne Optimist. Denn der Grundgedanke der Hamburger Band, der schon im Namen durchschimmert, bleibt: Wenn alles erst mal kaputt ist, kann man nicht nur auf den Gräbern tanzen, sondern auch was Neues beginnen. Und so ist es ein recht fröhliches Album geworden – so fröhlich man halt klingen kann, wenn die großen Vorbilder The Strokes sind. Über den Indierock-Gitarren Pötschs Stimme, die sich einfach so nett anhört, dass die Wut am Ende doch keine Chance hat. Dafür die Liebe – denn um die gehts natürlich, wie es sich bei einem Rock-Album gehört, auch. Juliane Streich

Heidelberger Sinfoniker

Heidelberger Sinfoniker

Haydn: Sinfonien

Haydn: Sinfonien

Es war ein ambitioniertes Projekt, das die Heidelberger Sinfoniker unter Thomas Fey noch vor der Jahrtausendwende begannen. Alle Sinfonien von Joseph Haydn wollte die Truppe einspielen. Zwar gab es schon andere Dirigenten, die diese Mammut-Aufgabe – immerhin hat der Wiener mehr als hundert Sinfonien komponiert – in Angriff genommen hatten. Aber nach wenigen CDs war klar, dass hier Erstaunliches passiert: Selten klang Haydn so frisch, den sprichwörtlichen Zopf hatten ihm die Musiker von vornherein abgeschnitten. Umso tragischer, dass sich Fey nach einem Unfall aus dem Musikleben zurückzog und das Projekt lange unvollendet blieb. Bis im vergangenen Jahr das aus freien Musikern zusammengesetzte Orchester mit Johannes Klumpp einen neuen Chef fand, der die Gesamtaufnahme nun fortführt. Der Anfang macht schon einmal neugierig. Sicher: Ganz so fulminant wie früher donnert Haydn nun nicht mehr über die Bühne und auch die Streicher klingen weniger ruppig-rau. Dennoch scheint hier ein kongenialer Nachfolger gefunden zu sein, der das langjährige Projekt mit großer Ausdauer zu Ende führt. Hagen Kunze

Igor Levit

Igor Levit

On DSCH

On DSCH

Es war heiß im Juli 1950, als in Leipzig wieder einmal Musikgeschichte geschrieben wurde: In der kühlen Thomaskirche spielte Dmitri Schostakowitsch ein Konzert direkt vor Bachs Grab. Zuvor hatte seine Landsfrau Tatjana Nikolajewa den Bachwettbewerb gewonnen, ihre Interpretation des »Wohltemperierten Klaviers« ließ den Komponisten nicht mehr los: Kaum nach Russland zurückgekehrt, komponierte Schostakowitsch als Verbeugung vor Bach nun selbst »24 Präludien und Fugen« nach dem gleichen Masterplan. So etwas kann man nur am Stück aufnehmen. Und nachdem er 2020 mit Beethovens kompletten Klaviersonaten auf sich aufmerksam machte, ist Igor Levit der Pianist per excellence für solch ein Vorhaben. Mit der CD-Box »On DSCH« aber liefert er nicht nur Schostakowitschs Bach-Reverenz, sondern gleichsam als Spiegel auch die 1960 entstandene »Passacaglia on DSCH« des Schotten Ronald Stevenson. Faszinierend, wie der Pianist damit einen gewaltigen Bogen zwischen zwei Künstlern des Kalten Krieges spannt, die musikalisch ein ähnliches Idiom sprechen. Ohne Frage eine Nominierung für die »CD des Jahres«! Hagen Kunze

Common

Common

A beautiful revolution Pt. 2

A beautiful revolution Pt. 2

Die wunderschöne Revolution geht ein Jahr später weiter, denn Common gehen die Themen nicht aus: andere Finanzkreisläufe, sauberes Wasser, gesundes Essen, mehr Musikerinnen wie Lauryn Hill und keine Studienkreditbelastungen – es ist eine beispielhafte Aufzählung aus »Imagine«, einem Signature-Track dieser Albumfort- setzung, die inhaltlich in der Tradition der gleichnamigen Lennon-Ono-Klavierhymne steht und irgendwie auch 2021er-Wiedervorlage der »Yes we can«-Hoffnung ist, die sich noch längst nicht erfüllt hat. Common zeichnet ein fast schon paradiesisch-utopisches Bild von einem Morgen, das voller Wunder ist. Er hat jetzt eine Vizepräsidentin, (viel zu) lange hat es gedauert, was er durch historische Motown-Anleihen in »Get it right« bebildert. Common will Brücken schlagen und schlägt selbst welche, zum Beispiel vom Hiphop zum Blues in »Poetry«. Ihm gelingt es, ein Rap-Album zu machen, das musikalisch in ausgefranste Bereiche dessen mäandert, was bis vor Kurzem noch mit Black-Music treffend beschrieben war und scheißsturmfrei so genannt werden konnte. Vermutlich werden Kritiker Commons zweitem Revolutionsabschnitt andichten, er sei weiterer Soundtrack zu Black Lives Matter, zur Pandemie etc.; Zuschreibungen, die nicht völlig falsch sind. Unterm Strich ist es aber ein in der Tradition von Gil Scot-Heron und James Brown stehendes positives Street-Gospel-Manifest, in dem der fast 50-Jährige der Invasion dieser ganzen Mumble-Soundclouder und Trap-Besatzer mit edlen Rittern wie Black Thought und Raphael Saadiq gehörig Substanz entgegenhält. Und Common bleibt dabei (und sich treu). Er kommt in friedlicher Absicht. Torsten Fuchs

Yetundey

Yetundey

Black Friday EP

Black Friday EP

Wenn gegen Ende von »Billo Boss Bitch« nach dem dritten oder vierten Break innerhalb von zwei Minuten die Loriot-Reverenz fällt, ist das so krass deplatziert, dass man das einfach feiern muss. Haken schlagen, thematisch wie musikalisch, kann Yetundey auf jeden Fall ziemlich gut. In besagtem Track besingt und berappt sie zu Trapdrums und Synthies die Jagd nach dem günstigsten Toastbroat im Penny: Charttaugliche Sounds, charttaugliche Texte, die ihre eigene Charttauglichkeit ums Verrecken nicht wirklich ernst nehmen können, dominieren hier wie auf dem Rest von »Black Friday«. In diesem Modus vergreift sie sich auf »Alles für Elise« am ollen Ludwig Van und seinem ewigen Gassenhauer, um daraus eine Hymne auf die zynische Influencerin von nebenan zu stricken, dreht auf »Sieh mich jetzt an« Raptextklischees ins Gegenteil (»früher AMG, jetzt fahr ich S-Bahn / und ich hör die Leute alle lästern / denn ich sitz ohne Louis in der S-Bahn«) und macht in ihrer unerschrockenen Schamlosigkeit weder vor exzessivem Autotune-Einsatz noch vor der Verwurstung der Prinzen halt (»Alles nur gekauft«). Würde Yetundey zwischendurch zum Saxofon greifen und ein zehnminütiges Free-Jazz-Solo zur Melodie von »Blau blüht der Enzian« improvisieren, man würde sich nicht vollends wundern. Das tut sie hier leider nicht, dafür liefert sie eine EP ab, die in ihren besten Momenten nach unberechenbarem Pop klingt, wie ihn in den USA etwa Doja Cat macht. Und was nicht ist, kann ja noch werden. Kay Schier

Daniil Trifonow

Daniil Trifonow

The Art Of Life

The Art Of Life

Zugegeben: Eine Überraschung ist es auf den ersten Blick nicht gerade, wenn Daniil Trifonow nun mit seinem neuesten Album einen Ausflug in Bachs musikalisches Lebenswerk unternimmt – auch wenn der russische Ausnahmepianist sonst eher ein Experte für Romantik ist. Aber: An Bach kommen sie eben allesamt nicht vorbei, die Tastenvirtuosen der Vergangenheit und Gegenwart. Im Zentrum steht die »Kunst der Fuge«, ein Zyklus, der bis heute Rätsel aufgibt. Denn die dem Stück zugrunde liegende Polyphonie war für Bach ein zentrales Mittel, um seine Umwelt zu deuten – während seine Kollegen schon auf viel moderneren Pfaden wandelten. Doch eben nicht nur der Thomaskantor selbst, sondern auch dessen Nachkommen sind auf der Scheibe verewigt: Jeder der komponierenden Söhne fand seinen individuellen Stil, das von Bach zusammengestellte »Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach« vereint die Familie zu einem wundervoll klingenden Kompendium. Das Ergebnis kann man gar nicht hoch genug loben: Faszinierende Präzision und stilistische Vielfalt kennzeichnen dieses Album vom ersten bis zum letzten Track. Hagen Kunze

Camille Saint-Saëns

Camille Saint-Saëns

Saint-Saëns-Edition

Saint-Saëns-Edition

Manche Jubiläen werden im Alltagstrubel regelrecht vergessen. Vor 100 Jahren, am 16. Dezember 1921, starb Camille Saint-Saëns. Vielen fällt bei seinem Namen der »Karneval der Tiere« ein, doch der Franzose steht für mehr als nur für diesen Hit. Über 600 Werke hat der Klavier- und Orgelvirtuose komponiert – Kammermusik, Solowerke, Konzerte, Oratorien, Opern. Erstaunlich jedoch, dass nur wenige von ihnen derzeit in Konzerten zu hören sind. Und von Raritäten, die neu entdeckt werden, darf man nicht einmal träumen … Umso besser, dass Warner Classics aktuell eine »Camille Saint-Saëns Edition« auf den Markt gebracht hat: einen Querschnitt aus dem umfangreichen OEuvre des Komponisten. Zwar ist es keine Gesamtaufnahme und einige Lücken (Weihnachtsoratorium!) überraschen sogar. Doch die Box mit sage und schreibe 34 CDs enthält Tonaufnahmen aus einer Zeitspanne von mehr als einem Jahrhundert. Die frühesten gehen auf das Jahr 1904 zurück und präsentieren den Pianisten Saint-Saëns: ein Stück Zeitgeschichte und zudem ein Geschenk mit größtmöglichem Wow-Effekt für Klassik-Liebhaber. Hagen Kunze

Herman Dune

Herman Dune

Santa Cruz Gold

Santa Cruz Gold

David Ivar Herman Dune hat den Kontakt zu seinen alten Plattenfirmen abgebrochen, um neue Songs mit weniger Druck schreiben zu können, und ist nach Los Angeles gezogen. Gelegentliche Konzerte gab der gebürtige Franzose nur noch in seiner Wahlheimat. Aber am bekannten Herman-Dune-Sound hat sich im Laufe der Jahre wohltuend wenig geändert. Nach wie vor steht der Name für verspielte, groovende Songs mit bittersüßen Texten. »Santa Cruz Gold« bildet da keine Ausnahme, auch wenn diesmal Country stärker hervorsticht als Folk. Die offenherzige, bisweilen naiv anmutende Art, Musik darzubieten, erinnert stark an Jonathan Richman. Zudem war und ist Bob Dylan eine wichtige Referenz, was sogar im Opener »Life On The Run« thematisiert wird. Insgesamt fällt »Santa Cruz Gold« weniger gut gelaunt aus als manch anderes Herman-Dune-Album. Ungeachtet dessen beweist dieses Werk eindrücklich, dass die Band immer noch ein Wörtchen im Indie-Folk mitzureden hat, und macht Lust auf baldige Konzerte in hiesigen Gefilden. Kay Engelhardt

Niek Baar und Ben Kim

Niek Baar und Ben Kim

Solitude – Werke von Robert und Clara Schumann

Solitude – Werke von Robert und Clara Schumann

Der junge niederländische Geiger Niek Baar und der amerikanische Pianist Ben Kim sind ohne Zweifel ein fantastisches Duo. Ihr Album »Solitude« (Einsamkeit) kombiniert Robert Schumanns Violinsonaten 2 und 3 mit Clara Schumanns Romanzen für Violine und Klavier opus 22. Von Anfang an wird mit großer Ernsthaftigkeit musiziert, bestechend die Klarheit und die Konzentration in Klang und Ausdruck. Robert Schumanns Violinsonate Nr. 3 wird erst seit wenigen Jahren dank der neuen Schumann-Ausgabe als eigenständige Sonate aufgeführt. »Frei, aber einsam« war das Motto des berühmten Gemeinschaftswerks der Komponisten Dietrich/Brahms/Schumann, zu der Schumann die Sätze 2 und 4 beisteuerte. Später ersetzte er die Sätze seiner Kollegen und schuf damit seine eigene »F.A.E.-Sonate«, wenn auch ohne Opuszahl. Berührend hier das Intermezzo, das Baar und Kim mit großer Klangschönheit darbieten. Überhaupt steht »Schönheit« im Zentrum ihrer Interpretation. Die innere Zerrissenheit, bei Schumann durch das gegensätzliche Charakterpaar Florestan und Eusebius symbolisiert, wird in dieser Aufnahme geglättet, in der Ausgewogenheit und Harmonie im Vordergrund stehen. Den intimen drei Romanzen von Clara Schumann kommt dieser Ansatz eher zugute, sie sind wunderbar poetisch, sprechend, innig. In Robert Schumanns 2. Sonate in d-moll fehlt es bei all der dargebotenen Schönheit dann doch an leidenschaftlichem Charakter, an Schroffheit und Abgründen in der Interpretation. Allzu emotional ausgeglichen, allzu gut »in Form« gehalten und beherrscht wirkt hier das Spiel, Schlussakkorde werden schön »gesetzt« auf Kosten des Ausdrucks. Atemlosigkeit, Verzweiflung sind weniger spürbar. Als Duo sind Niek Baar und Ben Kim dennoch außerordentlich überzeugend. Ihr Spiel übt eine eigenartige, fast aus der Zeit gefallene Faszination aus. Silke Peterson

Ilgen-Nur

Ilgen-Nur

It’s All Happening

It’s All Happening

Ilgen-Nur ist die coolste Slackerin, die Deutschlands Indiepop zu bieten hat. Oder müssen wir inzwischen sagen: Hatte? Denn das neue Album der Songwriterin ist in Los Angeles entstanden – und so klingt »It’s All Happening« auch. Nach Träumen und Sonnenuntergang am Meer, nach Freiheitsversprechen und lauen Nächten, in denen man in einem alten Mercedes durch die Landschaft cruist. Genau das hat Ilgen-Nur getan, nachdem sie in der Stadt der Engel während der Corona-Pandemie irgendwie gestrandet war – und kurz danach auch direkt wiederkommen musste. Ihr Power-Pop ist weniger schrammelig als auf ihrem Debüt »Power Nap«, Klaviere und Synthies kommen deutlicher zum Einsatz, alles ist wärmer, melancholisch aber natürlich auch. Summertime-Sadness trifft auf Momente des Glücks. Ilgen-Nur singt über die Liebe, über Drogen nehmende Großstädter, über Dinge, die man einfach nicht versteht, und über die Suche nach sich selbst. Sie selbst ist bei dieser Suche anscheinend fündig geworden: »Windows are mirrors / You are the things you want to be« heißt es im letzten Song. Und wie hoffnungsvoll schön ist das, bitte? Ein dreamy Sommeralbum, das man auch ganz wunderbar im dunklen Herbst hierzulande hören kann. Juliane Streich

Erregung Öffentlicher Erregung

Erregung Öffentlicher Erregung

Speisekammer des Weltendes

Speisekammer des Weltendes

Die Servietten bitte gründlich in den Kragen stopfen und los: Synthies brodeln, die Drums wallen. Alsbald prickeln Gitarrentöne und sie formen fortan spritzige Akzente für die Gesangsmelodie. Die Stimme Anja Kastens befeuert die Silben, sie beeindruckt mit frischem Timbre und ihrer kaum zu bändigenden Energie, die über die Aufnahmen hinaus brodelt: »Doch am meisten lieb ich’s, wenn du abflämmst, aufschlägst, flambierst und demolierst.« Einmal vor Wut kochend, servieren Erregung Öffentlicher Erregung gleich »Viele Pommes« hinterher, die, statt in rot-weißen Saucen zu schwimmen, mit Synthies und Sentimentalität überbacken werden. Zum Dahinschmelzen träumt der Song »Heiße Liebe, sanfter Engel« davon, wie Liebe und Eiscreme durch den Magen gehen. »Ich koch über und du bist zu weich« sind die Worte, die Kasten im Song »Suppe (franz.)« in vereinnahmenden Repetitiven antreibt. Allen voran das Stakkato der Silben von »Suppe« garantiert einen wohligen Ohrwurm. Verfeinert mit einer umtriebigen Bassmelodie, entdeckt der Folgetrack das Haar in der Suppe. Garniert mit Aufmüpfigkeit und verziert mit eingängigen Melodien serviert das Sextett Erregung Öffentlicher Erregung seine aktuelle Platte »Speisekammer des Weltendes«. Das Menü aus Delikatesse und Tristesse umfasst 12 schmackhafte Songs mit frischen, zumeist unbeschwerten Melodien. Seit ihrem Debüt von 2020 zeitgeistert die Gruppe mit dem klangvollen Namen durch Retroavantgarde-Klänge und Musik der Neuesten Neuen Deutschen Welle. Claudia Helmert

Timber Timbre

Timber Timbre

Lovage

Lovage

Es wurde Licht im Internet, als Taylor Kirks Folk-Projekt Timber Timbre nach einem sechsjährigen Hiatus ein neues Album ankündigte. Nun stellten sich einige Fragen: Wird Kirk sich für die Fortsetzung der eher elektronischen, an die 80s erinnernden Synthie-Klanglandschaft entscheiden, mit der die kanadische Band im letzten Album »Sincerely, Future Pollution« (2017) die Zuhörerinnen und Zuhörer schockierte? Oder wird die Band zur analogen Instrumentierung der ersten sechs Alben zurückkehren; zu jenem kinematografischen Genre-Eklektizismus zwischen Folk, 50s-Americana, Rock and Roll, Rhythm and Blues, Country und und und? Die Antwort liegt irgendwo dazwischen. »Lovage« ist ein 33-minütiges, melancholisches Album mit krautrockigen Eskapaden und einem Lo-Fi-Lied im filmischen, makabren Hi-Fi-Land. Darin teilt sich Kirks Baritonstimme mit dem Piano die Hauptrolle, ohne den Klang des Schlagzeug-Jazz-Besens, des mehrstimmigen Gesangs, der Synthesizer, obskurer Texte zu vernachlässigen. So fragt der Sänger ironisch zu Beginn des Albums: »Do you wanna see a dead body / Don’t you wanna see a dead body? / Ask the community«. Banger! Libia Caballero Bastidas

Pose Dia

Pose Dia

Simulate Yourself

Simulate Yourself

Sneakers liegen in einer Holzkiste vergraben in der Einöde. Sie werden ausgebuddelt, später für fast zwei Millionen verkauft. So erzählt es Pose Dia in ihrer multimedialen Konzertperformance »Empire of the Statue«, die letztes Jahr auf Kampnagel zu sehen war und die Grundlage für ihr neues Album »Simulate Yourself« lieferte. Fragte die Hamburger Künstlerin da noch, wie Pop und Trends konserviert werden, verknüpft sie auf ihrer zweiten Platte nach dem Debüt »Front View« Soziologie, Medientheorie und Post-Strukturalismus. Klingt kompliziert? Ist es auch – aber macht nichts, denn es klingt auch supercool. Helena Ratka vereint in ihrem Alter Ego Pose Dia viele Strömungen ihres bisherigen Schaffens: Mit Sophia Kennedy ist sie das Duo Shari Vari, als Ratkat legte sie als Resident-DJ im Golden Pudel Club auf, zudem komponierte sie Soundtracks und Theatermusik. All das hört man auch auf »Simulate Yourself«: die Ekstase und Dramatik des Nachtlebens, die Freude an der Kunst und einer rätselhaften Story, die Beobachtungsgabe für den Wahnsinn der Welt, den sie dann scharfsinnig abstrahiert. Ratka singt kaum auf den neun Tracks, sie spricht zu uns. Spoken Words, die assoziativ aneinandergereiht werden. Die vom Feuer erzählen, das man fängt. Von der Asche des Phönix, von Mandelmilch und Widerstand. Eine obskure Mischung aus Sehnsucht und Manie, die unter die Haut geht, während die Worte gar keine große Rolle spielen. Vielmehr knallt die Musik rein. Kühl und minimal, mal eher Pop, mal eher Techno, viel Cold-Wave-Synthies. Electrosounds aus einer anderen Welt. Einer Welt, die künstlich ist, seltsam, anders irgendwie. Aber doch unserer ähnelt, der sogenannten Real World, in der Algorithmen bestimmen, was wir sehen, Hypes gefeiert werden, Menschen für Sneakers tatsächlich ein Vermögen ausgeben. Juliane Streich

Animal Collective

Animal Collective

Isn’t it now

Isn’t it now

Animal Collective liefern uns das Album zur neuen Zeitrechnung: »Isn’t it now«, das Album eins nach Corona. Diese Referenz auf die Pandemie sei hier noch einmal erlaubt, da »Isn’t it now« in der Tat zusammen mit dem Vorgänger »Time Skiffs« betrachtet werden muss: Die Songs beider Alben sind zur selben Zeit und in derselben Hütte entstanden, in die sich das US-amerikanische Kollektiv um Avey Tare, Panda Bear, Geologist und Deakin für die Arbeit zurückgezogen hatte. Dann kam der Lockdown und gab vor, dass die Aufnahmen nur noch remote erfolgen konnten. Und Animal Collective gaben ihrerseits vor, dass das nur für die neun Songs auf »Time Skiffs« funktionieren kann. Für die anderen neun Tracks brauchte es eine gemeinsame Bühne im Studio und die wechselseitigen Blicke. Dass die Songs des »Live«-Albums deutlich länger sind als die des Remote-Albums, sagt einiges über die Band aus: Zusammen auf einer Bühne oder in einem Raum sind die vier Musiker verspielter und ausufernder. Das Schlagzeug verliert sich im 4/4-Takt und in Synkopen; das Klavier spinnt Melodien und eine Orgel setzt den Kontrapunkt. So verweben sich die Instrumente ineinander und vergessen im Spiel die Zeit. Dynamik heißt bei Animal Collective nicht wilde Energie, sondern Gemeinsamkeit, Austausch und Sich-treiben-Lassen. Dieses Markenzeichen des Kollektivs wird im direkten Vergleich der beiden Alben besonders deutlich. »Isn’t it now« wird damit auch ein bisschen zur Hommage der Band an sich selbst und das gegenseitige musikalische Verständnis, das sie seit fast einem Vierteljahrhundert pflegt. Kerstin Petermann

Die Türen

Die Türen

Kapitalismus Blues Band

Kapitalismus Blues Band

Hört man sich durch den Backkatalog von Die Türen – Haus- und Hofband des Berliner Labels Staatsakt –, beschleicht einen fast das Gefühl, dass sie mit ihrem Oeuvre am liebsten jeden Winkel der Popkulturgeschichte beleuchten möchten. Mal ging es bei ihnen in der Vergangenheit Elektro-poppig zu (wie auf »Das Herz war Nihilismus«), mal soulig-funkig (wie auf »Popo«), ein anderes Mal krautig-ausufernd (wie auf »Exoterik«). Auf ihrem neuen Album präsentiert sich die Allstar-Band um Maurice Summen, Chris Imler, Andreas Spechtl & Co. nun wieder deutlich kompakter als zuletzt: Statt ausufernder Impro-Eskapaden dominieren eingängige Riffs und Refrains, ohne dabei den üblichen musikalischen Schulterblick nach links und rechts aufzugeben: So wird der Ambient-Noise (»Im Wohnzimmer meines Opas«) ebenso freundlich gegrüßt wie hyperaktiver Post-Punk (»Grunewald is burning«) und intimer Singer/Songwriter-Pop (»Tiny House«). Und anders als im Opener (»Gut für mich, schlecht für die Welt«) verlautbart ist dieses Album nicht nur (verdammt) gut für mich, sondern ebenso (und ganz besonders) für die Welt. Luca Glenzer

Asasello-Quartett/Christiane Oelze/E-MEX-Ensemble

Asasello-Quartett/Christiane Oelze/E-MEX-Ensemble

Sterne steigen dort ...

Sterne steigen dort ...

Auf dem CD-Cover wird der Name noch nicht verraten, lediglich das Porträt der Komponistin und die Anfangszeile des Stefan George-Gedichts »Vorklang« legen eine Spur. Albert Maria Herz ist diese CD gewidmet, mit einem Querschnitt ihres insgesamt leider nur 30 Werke umfassenden Schaffens. Das Booklet gibt Auskunft über das Leben der jüdischen Komponistin, Pianistin und Konzertveranstalterin, deren Lebensdaten (1878 in Köln geboren, 1950 in New York gestorben) für sich sprechen. Der von ihr häufig verwendete männliche Vorname erinnert an ihren verstorbenen Ehemann. Bachs Chaconne, von Herz für Streichquartett bearbeitet, eröffnet die CD, ein großes Credo an Bach und den »Glauben an den Glauben«. Die »Fünf Lieder auf Worte von Stefan George« opus 7, von Christoph Maria Wagner für Ensemble bearbeitet, sind musikalisch ganz Expressionismus. Die Sopranistin Christiane Oelze und das E-Mex-Ensemble hätten die Extreme in Ausdruck und Dynamik gerne stärker herausstellen dürfen. Das ist dem Asasello-Quartett mit den »Vier kleinen Stücken für Streichquartett« opus 5 und dem Streichquartett opus 6 überzeugender gelungen. Die »Rundfunkmusik für 8 Instrumente« opus 9, im Stil der neuen Sachlichkeit, beschließt diese CD spielerisch und charmant. In ihrem Booklet-Text beschreibt die Musikerin Barbara Streil die Aufnahme als notwendigen Beitrag in der Aufarbeitung unser aller (Musik-)Geschichte. Dem kann man nur zustimmen. Silke Peterson

Mohammad Motamedi/Rembrandt Trio

Mohammad Motamedi/Rembrandt Trio

Intizar: Songs Of Longing

Intizar: Songs Of Longing

Mohammad Motamedi ist ein im Iran gefeierter Sänger, der in der traditionellen persischen Musik zu Hause ist. Seine Zusammenarbeit mit dem niederländischen Rembrandt-Trio ist ein Glücksfall und Visitenkarte des neu gegründeten Labels »Just Listen«. Das Jazz-Trio gibt zu Beginn der Lieder Improvisationen vor, deren Stimmung und Rhythmus der Sänger aufgreift, ad hoc ein Gedicht aus dem spirituellen persischen Repertoire aussucht und frei darüber improvisiert. Auch wenn man die persischen Texte nicht versteht, dem sehnsuchtsvoll leidenschaftlichen Charakter kann man sich kaum entziehen. Der aus dem 14. Jahrhundert stammende persische Dichter Hafis (oder Hafez), der hier auch zu Wort kommt, faszinierte bekanntlich schon Goethe und Rückert. Die niederländischen Musiker um den Pianisten Rembrandt Frerichs spielen einfühlsam, fast vorsichtig, nehmen originelle, zum Teil historische Instrumente (Kirchenorgel) hinzu, färben und setzen hin und wieder jazzige Kontrapunkte. Die sieben Lieder sind trotz der für persische Musik typischen Sehnsuchtsthematik sehr unterschiedlich und differenziert, von meditativer Kontemplation bis zu orgiastischer Wildheit. Die persische traditionelle Musik bleibt in ihrem Kern und in ihrer Aussage unangetastet, zum Glück weit entfernt von weichgespülter »Weltmusik«. Das neu gegründete Label Just Listen Records möchte durch mehr Raumklang und weniger perfektionistische Nachbearbeitung die natürliche Konzertatmosphäre nachempfinden. Das ist gelungen. Silke Peterson

Devendra Banhart

Devendra Banhart

Flying wig

Flying wig

Freaky ist Devendra Banharts neues Album »Flying wig« nicht, jedenfalls nicht mehr. Wer ihn immer noch mit seinen Alben »Smokey Rolls Down Thunder Canyon« oder »What Will We Be« aus den mittleren Nullerjahren assoziiert, soll das bitte so beibehalten. Natürlich verändern sich Musiker, und das freut uns alle, denn auf heuchlerisch-anbiedernden Sound hat sowieso niemand Bock. Das hat sich Banhart genauso gedacht und hat uns eine Schlaftablette in Vinylform verpasst. Von der spielerischen Folk-Rock-Fusion mit lateinamerikanischen Stilen und der vibrierenden Falsett-Stimme seiner früheren Musik ist nichts mehr rauszuhören. Das neue Album ist eher elektronisch, atmosphärisch, ruhig minimalistisch, mit einem sehr subtilen E-Gitarreneinsatz und den Backgroundvocals von Cate Le Bon, die für Dynamik sorgen. Es besteht aus zehn melancholischen Songs, die im Grunde genommen von Verzweiflung, Trauer, Hoffnung und Dankbarkeit handeln. Banharts tiefe Stimme leitet das Ganze fünfzig Minuten lang mit Wärme und Gelassenheit. Für die Leute also, die gerne Musik zum Einschlafen hören, sehr empfehlenswert. Für die anderen, die trauern und dabeibleiben wollen, ebenso. Libia Caballero

Colter Wall

Colter Wall

Little Songs

Little Songs

Colter Wall ist 28 Jahre alt und hat die Stimme einer Kneipenlegende jenseits der 50. Der Kanadier ist ein Shooting-Star des zeitgenössischen Country. Mit »Little Songs« legt er sein viertes Studioalbum vor, das sich wie eine Demonstration seiner Fähigkeiten als ernstzunehmender Geschichtenerzähler anhört. Das Cover mutet wie ein Westernfilm an: Wall sitzt auf einem Pferd und blickt gedankenverloren in die Prärie. So hört sich der erste Teil des zehn Song starken Albums auch an. Gleich im ersten Lied, »Prairie Evening/Sagebrush Waltz«, dröhnt seine Baritonstimme über die genretypische Steelguitar. Da wird auf Merle Haggard hingewiesen, der aus der Jukebox dröhnt, und man kann sich den Tanz im staubigen Truckstop irgendwo in Alberta gut vorstellen. Wall macht klar, wer die Vorbilder sind. In »Standing Here« tuckert eine Bassline vor sich hin, die auch aus einem Song Johnny Cashs stammen könnte. Auf seinen vorherigen Alben coverte der Kanadier auch mal einen Townes Van Zandt oder Marty Robbins. Respektbekundungen und Hommagen sind berechtigt, doch fehlt dem Ganzen auf dem Album die Innovation. Beim Soundbild versucht man, genauso zu klingen wie damals. »Corraling The Blues« ist eine tolle Ballade, danach folgt mit »The Coyote & The Cowboy« ein eher schwächerer Song, der an ein Kinderlied erinnert. Wall ist ein guter Musiker und kann Country zwar versatil spielen, doch fehlt es dem Album an Tiefe. Oder wie Zack Fox, seines Zeichens Comedian und Teilzeit-Musikkritiker aus Atlanta, eine überschaubare musikalische Leistung einmal resümierte: »This ain’t it.« Jan Müller

Slowdive

Slowdive

Everything is alive

Everything is alive

Alles lebt – Everything is alive. Ist das nun eine Bestätigung, ein Aufatmen, ein Mantra oder ein Hoffnungsschimmer? Der Titel ist eher ein roter Faden, der sich durch das fünfte Studioalbum von Slowdive zieht. Das britische Shoegaze-Quintett erörtert Existenzielles: Neuanfänge und Vergangenes, Beziehungen und Isoliert-Sein. Ganz schön vage? Ja, vielleicht auch ein bisschen orientierungslos. Wenn man aber weiß, dass das Album der verstorbenen Mutter von Rachel Goswell und dem ebenfalls verstorbenen Vater von Schlagzeuger Simon Scott gewidmet ist, dann ergibt dieses Gefühl Sinn. Und die sphärischen, ineinander verwobenen und schwebenden Synthie-Schichten könnten nicht passender sein. Sie geben dem Verloren-Sein, das man nach einem solchen Verlust verspüren mag, einen Klang. Dieser Klang ist reduzierter als bisher, aber auch konzentrierter und suchender. Die Synthesizer wabern ruhiger und dominanter. Vielmehr als den Gesang braucht es dazu nicht. Vielleicht ist das Teil der Katharsis: nach den Verlusten, aber auch nach dem Neuanfang. Sechs Jahre ist es her, dass Slowdive sich 2017 mit dem selbst betitelten Album zurückgemeldet haben. »Pygmalion«, das vorherige Album (1995), ist aber unendlich viel länger her. Und so wirken die acht Songs auf »Everything is alive« wie eine Läuterung, die Häutung einer Band, die in den Neunzigern voller Übermut und Drang innerhalb weniger Wochen ihr Debüt geschrieben und aufgenommen hat. Dieselbe Band ist nun gesetzter, erfahrener und dankbar wie jemand, der nach einer Geschichte mit einigen Höhen und Tiefen und Verlusten lebend davongekommen ist. Kerstin Petermann