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Rezensionen

Superpositivity

Superpositivity

Cerenity

Cerenity

Die Bassmelodie spult sich in den Vordergrund, wo sich schon die Worte zurechtrücken: »I wanna work not a single day, it makes me sick, feel down.« Der Gesang schmiegt sich an die strömende Melodie und verhallt sodann lässig. Die Gitarrentöne beginnen unruhig, eine Umtriebigkeit in den Song pulsiert. Wie das Flirren auf heißem Asphalt verdampfen die Klänge des wohlig-warmen Tracks »Iwanna«. Im Gegensatz zum ersten Song schwelgt der folgende Track »zeit2zwei« in deutschen Sprachbrocken. Auch hier ticken die Gitarrenanschläge rastlos. Dazu haucht und säuselt das bisweilen verzerrte Organ die Textfetzen: »die Zeit enteilt«. Melodien ziehen Schlieren durch den knapp zweieinhalbminütigen Song und führen weiter zu »my_eyes«. Bewegt von Coolness und Unbekümmertheit glüht der Song im dichtgestrickten Gewebe aus tänzelnden Rhythmen und wallenden Gitarrenklängen. Da aller guten Dinge bekanntlich vier sind, flirrt final der Titeltrack »Cerenity« vorüber. Der Song verzahnt das musikalische Getriebensein zu einem Sog, dem man sich zu gern hingibt. Gleich Treibsand zieht die EP »Cerenity« langsam und unweigerlich in die schönen Tiefen aus Musik von Superpositivity. Aus der Feder oder vielmehr den Händen Valentin Bringmanns nähert sich sein Soloprojekt der Megahappiness – zumindest klanglich. Claudia Helmert

Die Regierung

Die Regierung

Nur

Nur

Nein, eine breite Palette an lyrischem Ausdrucksvermögen und verarbeiteten Themen kann man Tilman Rossmy nun nicht gerade attestieren: Auf knapp zwanzig Alben kommt er mittlerweile, summiert man die Alben der Regierung mit seinen Soloalben. Und immer geht es irgendwie um die romantische Liebe, die zwar unbedingt gewollt wird, aber nie so aufzugehen scheint, wie man sie sich ersehnt hat. Nun erscheint mit »Nur« das vierte Album seit dem starken Regierungscomeback 2017. Der Blick auf die Tracklist verspricht zunächst Altbewährtes: »Wenn die Liebe ruft«, »Die Liebe, die niemals kommt« oder »Wo ist die Liebe jetzt«. Spätestens jetzt haben die meisten Leserinnen und Leser bereits geskippt. Fair enough, gibt es doch genug weiße Männer jenseits der Sechzig, die glauben, uns mit musikalischen Ergüssen beglücken zu müssen, die in sentimentalen Rotwein-Momenten ihre Hirnrinde verlassen hat. Bei der Regierung ist das zwar mutmaßlich nicht ganz anders, dafür aber viel besser als üblich – so auch dieses Mal. Egal, ob im treibend-verzerrten Opener »Nichts ist wirklich«, der reduzierten Pianoballade »Nirgendwo Hinzugehen« oder im mystisch-verspielten »Die Tür«: Stets beweist Rossmy sein feines Händchen für Wortspiele und eingängige Melodien. Und als Nicht-Boomer erblasst man zugegebenermaßen schon ein wenig vor Neid, wenn Rossmy derartig cool und nonchalant singt: »Ohne jede Hoffnung, so will ich sein.« Luca Glenzer

Leipziger Synagogalchor/Philipp Goldmann

Leipziger Synagogalchor/Philipp Goldmann

Samuel Lampel: Abendgebet für Schabbat, Leipzig 1928

Samuel Lampel: Abendgebet für Schabbat, Leipzig 1928

Samuel Lampel war ab 1914 Kantor an der Großen Gemeindesynagoge in der Gottschedstraße (wo heute 140 unbesetzte Bronzestühle an die durch die Pogromnacht gerissene Lücke im Stadtbild erinnern), er gestaltete Führungen, Vorträge und Konzerte in der Synagoge sowie Rundfunkbeiträge mit Synagogalmusik. Im Juli 1942 wurde er zusammen mit seiner Frau deportiert und vermutlich in Auschwitz umgebracht. Nur 24 von einst 13.000 Mitgliedern der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig überlebten den Holocaust. Seine Sammlung von 57 Musiken zur Schabbat- und Festtagsliturgie für Kantor, gemischten Chor und Orgel erschien 1928 unter dem Titel »Kol Sch’muel«, die Stimme Samuels. Der Leipziger Synagogalchor unter Leitung von Philipp Goldmann hat nun eine Auswahl daraus mit Originalkompositionen und Bearbeitungen traditioneller Melodien eingespielt. Den Part des Kantors gestaltet Cantor Assaf Levit überaus lebendig, Orgel spielt Ivo Mrvelj. Die auch klanglich erstklassige Aufnahme entstand in der Leipziger Thomaskirche und gibt Einblick in die traditionelle Praxis der Wechselgesänge zwischen Kantor und Chor. Die einst für die Schabbat-Liturgie komponierten Werke gehen von traditionellen Melodien aus und feiern die Zuversicht über die einstige Wiederkehr des Messias. Lampel kombiniert die traditionelle Weise, den Nussach, mit komplexeren und romantischeren Melodien und Harmonien. Der homogene und strahlende Chorklang und seine hervorragende Intonation anspruchsvoller Harmonieverläufe ergeben ein rundes Bild und erinnern auf ganz besondere Weise an das frühere Musikleben des jüdischen Leipzigs. Anja Kleinmichel

Echo von nichts

Echo von nichts

Obhut

Obhut

Für diese CD braucht man Ruhe. Und sie schenkt noch viel mehr Ruhe. »Obhut« heißt die Scheibe der Leipziger Gruppe Echo von nichts, deren Kern die Klangkünstlerin Pina Rücker und die Sängerin Ingala Fortagne sind. Das Duo, das sich »Ensemble für stille Musik« nennt, wird hier von den Gästen Nadia Belneeva (Klavier), Carsten Hundt (Kontrabass) und Hayden Chisholm (Sprecher) ergänzt. So können Wiegenlieder aus fünf Jahrhunderten im außergewöhnlichen Gewand präsentiert werden – geprägt von Rückers industriellen Quartzschalen, die sich mit Fortagnes klarem Gesang zu faszinierenden Klangreisen ergänzen. Schwerpunkt der Scheibe sind hebräische und jiddische Weisen, die darum zu »klingenden Stolpersteinen des Erinnerns« werden, wie ein kurzer kluger Text im Beiheft verrät. Nebenbei wartet die CD noch mit einer Hommage an einen nahezu vergessenen Jubilar auf: Vor 125 Jahren wurde in Leipzig der Komponist Hanns Eisler geboren. Im Konzertsaal spielte das fast keine Rolle. Umso besser, dass Echo von nichts auch Eislers »Vier Wiegenlieder« in ihren Kanon aufgenommen haben. Hagen Kunze

Kacey Johansing

Kacey Johansing

Year Away

Year Away

Alles begann mit der Nachricht des nahenden Todes eines geliebten Menschen. Die Zeit des Abschiednehmens verarbeitet Kacey Johansing eindrucksvoll im Song »Daffodils«. Auch auf dem Rest des Albums sind Vergänglichkeit, Verlust und die Endlichkeit unseres Daseins beherrschende Themen. Dass die Musikerin aus Los Angeles eine ausgewiesene Expertin für sphärische Folk-Klänge ist, wissen wir bereits dank ihrer ersten drei Alben. Das neue Werk »Year Away« setzt da nahtlos an. Diesmal haben ihr unter anderem Meg Duffy von Hand Habits und die Klangkünstlerin Kaitlyn Aurelia Smith unter die Arme gegriffen. Wenn es um große Gefühle wie quälende Sehnsucht geht, ist sich Johansing auch nicht zu schade, klanglich schön dick aufzutragen. Zuckerwattige Streicher- und Bläsersätze kommen auf »Year Away« ausgiebig zum Einsatz. Und über allem schwebt die wunderbar-schwelgerische Stimme Johansings. Die Musikerin schlägt perfekt die Brücke zwischen flächigem Eighties-Pop und gut gelauntem Sixties-Folk. Daher ist die Platte gleichermaßen geeignet für Fans von Sade und Abba wie auch für Menschen, deren Herz für Bedouine oder Fruit Bats schlägt. Kay Engelhardt

Zur Schönen Aussicht

Zur Schönen Aussicht

NEU

NEU

Schnell stolpert man über die rhythmischen Versatzstücke hinein in kaum zu fassende Klangsphären: Jede einzelne Synkope drängt wieder und wieder in neue Zeitlöcher, neue Welten ein. Darin taumelt man in schillernden Synthie-Galaxien und verfällt raunenden Gitarrendimensionen. Mit seiner dritten Platte schreit das Trio Zur Schönen Aussicht: »NEU«. Der Name der Gruppe, so wohlklingend er sein mag, führt zu irrwitzigen Ergebnissen in der Suchmaschine deiner Wahl. Insbesondere die Bilderschau ebenda kann nichts hervorbringen, das der Musik der Band nahekommt. Ihre Klangutopie setzt auf kosmische Töne, die ekstatisch sprudeln und flirren: Mit dem einsetzenden Song »NEU 5« singt das Saxofon in einer außerweltlichen Sprache, aufgeregt und ungebremst. Es scheint in unmittelbaren Austausch mit den sich immer neu wölbenden Melodieweiten zu treten. Man verliert sich schnell in den quirligen Tonströmen, schwebt in der Klangdichte – umso besser, dass hin und wieder die Instrumente auf Flugbahnen in die ungeahnt wuchtigen Musiksphären verweisen. Zur Schönen Aussicht schaffen einen fulminanten Sog des Ungewohnten. Das Trio besteht aus Jo Wespel (Gitarre, Produktion), Paul Berberich (Saxofon) und Florian Lauer (Drums), die 2009 zueinanderfanden. Bis heute fühlen sie sich auf der Bühne wohler als im Studio. »NEU« macht dennoch Lust auf die energetischen Konzerte. Claudia Helmert

Art School Girlfriend

Art School Girlfriend

Soft Landing

Soft Landing

»Everything looks perfect from such great heights« – ein wahrer Satz von Postal Service, der auch ganz wunderbar zusammenfasst, worum es in Polly Mackeys neuem Album geht. Unter dem Namen Art School Girlfriend veröffentlicht die Britin mit »Soft Landing« ihr zweites Album. Im Leadtrack »Close to the Clouds« blickt die Mitt-Dreißigerin auf ihre Teenager-Jahre zurück. Aus der Entfernung der Jahre fällt die Retrospektive versöhnlich aus: »Growing up to look back / Not the best, believe that / I would never change a thing«. Die Jahre sind – Klischee hin oder her – geprägt von emotionaler Unsicherheit, Ablehnung und dem Gefühl, nicht verstanden zu werden. Aber auch diesen emotionalen Turbulenzen steht die Musikerin heute mit sanftem Verständnis gegenüber – und findet tröstende Worte für ihr jüngeres Ich: »Didn’t know the hardest plan / Has given me the softest land«. Wenn Polly Mackey mit »Soft Landing« auch musikalisch ihren Teenager-Jahren Tribut zollt, dann hat sie diese wohl mit Bands wie The The oder den Psychedelic Furs verbracht. Auf jeden Fall ist das aktuelle Album noch elektronischer geworden. Die Drums bekommen jetzt etwas mehr House, nachdem sie sich beim Debüt »Is It Light Where You Are« noch unter dem Synthie-Teppich versteckten. Die Melodie trägt nun vor allem der leicht düstere Gesang. In den elf Songs stecken die Nostalgie, die Wehmut, aber auch die Zärtlichkeit jener, die mit genügend Abstand zurückblicken. Kerstin Petermann

Anohni and The Johnsons

Anohni and The Johnsons

My Back Was A Bridge For You To Cross

My Back Was A Bridge For You To Cross

Auf ihrem neuen Album kehrt Anohni in gleich mehrfacher Hinsicht zurück ins Reich der Vergangenheit: Die Grundidee von »My Back Was A Bridge For You To Cross« erwuchs einer Begegnung mit der damaligen Bürgerrechtlerin Marsha P. Johnson auf der Pride-Parade 1992 in New York. Johnson war zum damaligen Zeitpunkt bereits eine Ikone der Queer-Bewegung. Wenige Tage später wurde sie tot im Hudson River geborgen. Bis heute ist Johnson für Anohni ein enorm wichtiger Bezugspunkt: Davon zeugt auch das neue Album, das ganz im Zeichen des Lebens und Wirkens der Trans-Aktivistin steht und für das Anohni gar das Anhängsel »and The Johnsons« reaktiviert hat, das sie vor über zehn Jahren (damals noch als Antony) ad acta gelegt hatte. Aus diesem Rückbezug auf die Vergangenheit erwächst ein Sound, der eine gänzlich neue Galaxie im Anohni-Kosmos aufschlägt: Denn nach den atonalen, apokalyptisch anmutenden Experimenten auf »Hopelessness« aus dem Jahr 2016 orientiert sich die Künstlerin dieses Mal am warmen Motown-Sound der frühen siebziger Jahre – ein neben der überzeugenden musikalischen Darbietung auch ideengeschichtlich schlauer Schachzug, da der Queer-Aktivismus der späten Sechziger in den US-Metropolen stets eng verquickt war mit der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, die wiederum assoziiert war mit dem Soul und Funk jener Zeit. Doch retro oder antiquiert klingt auf dem neuen Longplayer dennoch nichts: Stattdessen weisen Songs wie der Opener »It Must Change«, »Can’t« oder »It’s My Fault« aller Schwermut und Melancholie zum Trotz letztlich hoffnungsvoll in die Zukunft. Luca Glenzer

Anika

Anika

Eat Liquid

Eat Liquid

Zarte Synthies leuchten aus der Ferne und bremsen die geräuschvollen, rhythmischen Winde. Gitarrenmelodien dimensionieren das stille Dunkel. Dazu raunt, haucht, singt Anika in ihrem markant warmen Timbre. Ihre auratische Stimme führt in den Klangkosmos ein. Sie leitet durch die meditativen Repetitive und die transzendenten Tonschlieren ihrer Musik. Die Synthies schwirren, brodeln, wabern ins Außerweltliche. Mehr Psychedelisches im Alltag nimmt sich die britische Künstlerin zum Anspruch und zitiert mit dem Song »Climb on Board (Planetary Part V)« unmittelbar aus Timothy Learys »The Psychedelic Experience« von 1964. Leary war Psychologe und Guru, er brachte die Grenzen zwischen Droge und Medikament zum Schwimmen. So verfasste er im und durch den Rausch seinen Leitfaden über Erfahrungen religiöser, ritueller, mystischer Bewusstseinszustände durch psychedelische Drogen. Dass sich der Reiz des Rauschs, die Kontemplation, der Eskapismus auch in der Musik finden lassen, ist Anika bekannt: Sie suggeriert eine klangvolle Schwebe mit den nahen Melodiefunken und der dunklen, brodelnden Weite, die beschwingt. Mit ihren durchdringenden Traumsequenzen aus Tönen kreiert sie eine Gegenwelt auf Zeit. Die aktuelle Platte »Eat Liquid« komponierte die Musikerin, Produzentin und Journalistin Anika (Annika Henderson) für einen Liveauftritt im Zeiss-Großplanetarium in Berlin im Februar 2023. Die Live-LP ist nur eine von vielen schätzenswerten Veröffentlichungen der Wahlberlinerin, die unter anderem mit Beak und Exploded View, aber auch mit Sqürl ( Jim Jarmusch und Carter Logan) arbeitete. Und jetzt geschmeidig zurück in den Alltag? Claudia Helmert

Christoph Schenker

Christoph Schenker

Moviestar

Moviestar

»Es wäre toll, solche Alben alle zwei Jahre zu machen«, hatte Christoph Schenker nach dem Release seines Debütalbums »Cellosophy« (2012, Timezone) gesagt. Nun sind mehr als zehn Jahre vergangen, und die Zeit wurde gut genutzt. Dem Leipziger Cellisten ist mit »Moviestar« eine Fortsetzung zum Vorgängeralbum gelungen, die dieselbe Rezeptur nutzt, dabei aber die Menge der Zutaten reduziert und sich etwas mehr Leichtigkeit traut. Zu hören ist Schenkers Cello in zahllosen übereinandergelagerten Spuren, angereichert mit Klavier, Synthesizer, Schlagzeug, Drumcomputing, und – selten – Gesang. Die elf Stücke tragen Schenkers Handschrift, scheinen aber den Soundtracks zu unterschiedlichen Filmen zu entstammen. »Mahler Flies to the Moon« passt zu einem Märchen, die Beat-lastigen »Winters Ende« und »3000 Chords« bauen sich zu einem spannenden Showdown auf. »Sie + Er« mit seinem überladenen Arrangement nimmt einen mit in die Achtziger und sich selbst dabei zum Glück nicht allzu ernst. »Vöglein« macht das Kopfkino etwas konkreter: Hier ist es die bezaubernde Stimme Franziska Hudls, die dem Album einen Ruhepunkt gibt. Sie verleiht dem Kinderlied »Wenn ich ein Vöglein wär« eine neue Melodie und einen erweiterten Text – und erzählt dabei eine Geschichte von Nähe und Ferne und einem Flug durch Raum und Zeit. Ruprecht Langer

Elise Caluwaerts und Marianna Shirinyan

Elise Caluwaerts und Marianna Shirinyan

Alma – Meine Seele – Sämtliche Lieder von Alma Mahler

Alma – Meine Seele – Sämtliche Lieder von Alma Mahler

Alma Mahler komponierte etwas mehr als einhundert Lieder, Instrumentalstücke und den Beginn einer Oper. Bis auf die vorliegenden Lieder gingen jedoch alle ihre Kompositionen während des Zweiten Weltkriegs verloren. Ihre Lieder sind ein bemerkenswerter Teil des spätromantischen Liedrepertoires, werden bisher jedoch nur selten aufgeführt. Das vorliegende Album präsentiert erstmals alle 17 Stücke, die sie größtenteils als Jugendliche komponierte, also bevor sie Mahler hieß (nämlich Schindler). In ihnen wird ein Potenzial sichtbar, das die 1879 Geborene nicht ausgelebt hat, da die Niederlegung ihrer kompositorischen Ambitionen Bedingung für die Eheschließung mit ihrem Mann Gustav war. Die eigenwilligen Lieder sind stimmungsvoll, impulsiv, mehrdeutig, voll religiöser und erotischer Gefühle. Gustav Mahler gab fünf von Almas Liedern 1910 heraus. Im Rahmen einer schweren Ehekrise wandelte sich sein Blick auf die Jugendkompositionen seiner Ehefrau. Marianna Shirinyan begleitet die Sopranistin Elise Caluwaerts auf einem Steinway aus dem Jahr 1899, mit samtig-dunklem Timbre. Eine hörenswerte Interpretation dieses Repertoires, das direkt in die Zeit des Jugendstils mit seiner floralen Ornamentik führt und die dekadent-laszive Stimmung jener Zeit aufleben lässt. Anja Kleinmichel

Max Müller

Max Müller

Was weiß ich

Was weiß ich

Wem sich Grönemeyers »Das ist los« dieser Tage etwas zu manifestartig in den Weg stellt, der oder die kann sich bei Max Müllers jüngster Erscheinung »Was weiß ich« wohlig in Unbestimmtheit hüllen. Seit dem letzten Soloalbum des multibegabten Berliner Underground-Künstlers Max Müller (Mutter, Honkas, Campingsex) sind 14 Jahre vergangen. Mit »Was weiß ich« erschien Mitte Mai auf Fidel Bastro nun Max Müllers viertes Album, das in seinem Umfang und Inhalt von außerordentlicher Akribie und Experimentierfreude der musikalischen Einfälle zeugt. Raffinierte, teils zufällig und teils konsequent gesetzte Details im Songwriting und in der Produktion deuten auf unzählige Stunden im Heimstudio hin. Aus der Zerrissenheit und Melancholie, die sich durch das Werk ziehen, brechen tanzbare Momente, Autotune-Ironie, aber auch zarte Töne hervor. So ist es eine passende Überraschung, dass neben dem gesanglichen Gastauftritt von Partnerin Louise Lotzing auch Frank Spilkers Gitarre zu hören ist. 32 Lieder, die kaum unterschiedlicher sein könnten und sich doch in einem wichtigen Punkt gleichen: Denn in seiner Knappheit nimmt sich jeder Song die Freiheit, auf Originalitätsanspruch und Erwartungsdruck zu pfeifen. Fiona Lehmann

Die Benjamins

Die Benjamins

Die Benjamins

Die Benjamins

Die Benjamins – einen unscheinbareren Bandnamen hätte man sich kaum ausdenken können. Aber wo man nun mittelmäßigen Schulhof-Pop von ein paar pubertierenden Benjamins mit Akustikgitarren erwarten könnte, haben wir es tatsächlich mit einer der ungewöhnlichsten deutschsprachigen Supergroups der letzten Jahre zu tun: Trotz Plural im Namen gibt es bei den Benjamins genau eine Benjamin, Annette Benjamin nämlich – ehemalige Sängerin der legendären Punkband Hans-A-Plast, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern mit Hits wie »Lederhosentyp« oder »Rock’n’Roll Freitag« für Aufsehen sorgte. Dazu gesellen sich Max Gruber alias Drangsal, der das ganze Projekt angestoßen hat, Die-Nerven-Bassist Julian Knoth, Beatsteaks-Schlagzeuger Thomas Götz und Art-Pop-Sängerin Charlotte Brandi (früher Me and My Drummer). Klingt also erst mal äußerst vielversprechend. Nun ist die bloße Summe an illustren Mitgliedern in einem Projekt natürlich noch kein Garant für gute Songs oder einen interessanten Sound. Und so ist auch die selbstbetitelte Debüt-EP dieser »Avengers der deutschen Musik« – wie das Musikmagazin Diffus diese intergenerationale Gruppe recht treffend bezeichnete – eher durchwachsen. In den besten Momenten, etwa bei »Aus Liebe« oder »Drehen und Wenden« hat das Ganze in Sachen Energie und Originalität durchaus Hans-A-Plast’sche Qualitäten, ohne dabei verstaubt zu wirken. Eine Annette Benjamin in Höchstform, treibende Gitarren, interessante Choralpassagen – das sind durchaus spannende Ansätze, nur so recht aufgehen will das Ganze nicht. Der Sound ist dann doch oft etwas zu glattgebügelt, das Songwriting ein wenig zu verkopft und irgendwie schien allen Beteiligten nicht so ganz klar zu sein, wo man mit all dem musikalischen Potenzial eigentlich hinwill. Aber vielleicht sind Punk und das Konzept »Supergroup« auch einfach eine schwierige Kombination. Yannic Köhler

Jenny Lewis

Jenny Lewis

Joy’All

Joy’All

Jenny Lewis hat ihre bisherige Lebenszeit ausnehmend gut genutzt. Als Kind und Teenager arbeitete sie als Schauspielerin und hatte Gastauftritte in Serien wie »Baywatch« und »Roseanne«. In ihren frühen Zwanzigern war sie Mitbegründerin der Band Rilo Kiley, in der sie unter anderem sang. 2006 folgte sie der Einladung von Conor Oberst und nahm ihr erstes Solo-Album auf. »Joy’All« ist nun bereits ihre Soloplatte Nummer fünf. Der Großteil der Songs entstand während eines einwöchigen virtuellen Songwriting-Workshops, den kein Geringerer als Beck während des Corona-Lockdowns leitete. Die Challenge war es, jeden Tag einen Song nach den Vorgaben von Beck zu schreiben. Eine lautete etwa: »Schreibe einen Song, der nur aus Klischees besteht.« Entstanden ist dabei ein Album, das vor Retro-Charme nur so überquillt. Lewis hat nicht nur jede Menge Motown und Siebziger-Jahre-Country-Pop inhaliert, sondern besitzt auch ein feines Gespür für relaxte Melancholie. Selten haben bisweilen ziemlich düstere Songs so viel Spaß gemacht. Kay Engelhardt

King Krule

King Krule

Space Heavy

Space Heavy

Es war im Jahr 2013, da betrat über Nacht ein schüchterner Rotschopf die große Musikbühne, der in etwa so aussah wie Ron Weasley in seinem ersten Jahr in Hogwarts und zugleich so klang wie Tom Waits im Spätherbst seiner langen Karriere. Ja, schon irgendwie paradox, aber genau so war es! Vier Alben hat King Krule aka Archy Marshall – um den geht es hier nämlich! – bis »Man Alive« aus dem Jahr 2020 veröffentlicht. Nun – ziemlich genau 10 Jahre nach seinem Debüt – steht mit »Space Heavy« Album Nummer fünf in den Startlöchern. Und noch immer gleicht seine Musik einem düster funkelnden, wahlweise von Nina Simone oder Edwyn Collins höchstpersönlich geschliffenen Diamanten und klingt dabei zugleich so weise, als hätte er schon zehnmal zu Fuß die Welt durchquert und dabei fünf philosophische Habilitationen verfasst. Wie man es auch nennen mag – Dark-Jazz, Depressed-Wave, Death-Pop –, seine Musik vereint Abgründig- und Lässigkeit auf eine Weise, die einen regelmäßig staunen lässt. Unterstützt wird er dabei von einer Band, die wahrscheinlich weiß, wie gut sie ist, es aber nicht als nötig erachtet, das in jeder Albumsequenz zwanghaft unter Beweis stellen zu müssen. Wahrscheinlich ist es das, was eine Band so gut macht. Bringt der Bandleader dann noch in regelmäßigen Abständen so astreine Songs wie »Flimsier«, »Seaforth« oder den Titeltrack mit in den gemeinsamen Proberaum, verwundert es auch nicht, dass »Space Heavy« wie bereits seine Vorgänger über Wochen mit einer erstaunlichen Hartnäckigkeit nicht mehr vom rotierenden Plattenteller verschwinden möchte. Libia Caballero

PJ Harvey

PJ Harvey

I Inside The Old Year Dying

I Inside The Old Year Dying

Im Laufe der vergangenen 30 Jahre hat PJ Harvey es wie kaum eine andere zeitgenössische Künstlerin vermocht, ein eigenes musikalisches Universum zu kreieren. Angefangen von Alternative-Rock-Alben wie »To Bring You My Love« und »Stories From The City, Stories From The Sea« bis hin zu den opulent und detailreich arrangierten Art-Pop-Alben »Let England Shake« und »The Hope Six Demolition Project« hat sie sich ein breites Spektrum an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten angeeignet. Zuletzt wurde Harvey immer politischer, drehte für ihr letztes Album gar die Dokumentation »A Dog Called Money«, bei der sie sich auf einer Reise durch Afghanistan und den Kosovo begleiten ließ und die dortige Armut und gesellschaftlichen Umstände geißelte. Nach einer länger anhaltenden künstlerischen Schaffenskrise ist ihr neues Album »I Inside The Old Year Dying« nun wieder intimer geraten, knüpft musikalisch aber weitgehend dort an, wo sie zuletzt aufgehört hatte: So hätten Tracks wie »Autumn Term«, »Lonesome Tonight« oder der Titeltrack auch auf einem der beiden vorangegangenen Alben enthalten sein können. Kunstvoll verwebt Harvey dabei folkige Melodien mit jazziger Rhythmik, europäische mit orientalischer Harmonik und trägt damit implizit zu einer Entgrenzung von Begriffen und üblichen Termini bei: Art-Rock? Chamber-Pop? Post-Jazz? Harvey ist all das natürlich egal, und solange sie weiter solch hochklassige Alben produziert, hat man zugegebenermaßen selbst als Musikjournalist keinen Anlass, diesen Umstand zu kritisieren. Luca Glenzer

Dolphins

Dolphins

TBH

TBH

Wie die aufblitzenden Lichtreflexionen der Sonne auf einer weiten Wasseroberfläche funkeln, wärmen die Gitarrenmelodien von Dolphins. Groovy Drums tauchen ihr Klangbild in Lässigkeit. Gedämpft, gedoppelt und mit stets unbeschwerten Retrovibes umschmeichelt der Gesang den ersten Track: »Never Ever Run«. Die Synthies schlagen Wellen und berauschen im Takt des Songs »$oft Core«. Taktvoll prickeln die eingängig gehauchten Silben. Mit der anklingenden »Champagne Overdose« fispeln die Gesänge angenehm, die Bässe massieren und nonchalant sprudeln die Klänge vor sich hin. Der folgende Song »Don’t Blame It On Me (Or Thierry Henry)« ist ein Strudel der Melodien, der in Tiefen aus derben Gitarrentönen mitreißt. Mit »Future Dreams« und »Doin It« düsen die Klänge in einen warmfarbenen Horizont fort, sicher wird dort getanzt. »TBH« taufen Dolphins ihre aktuelle EP, die sich wie Urlaub anhört. Das Leipziger Duo ist eine dieser Bands, die ihre Geschichte mit den Worten »von der WG-Küche in die Welt« erzählen wollen. Bis dahin wirken sie als Kondensat des lokalen Musikuntergrunds, sind Teil des Sextetts Flying Moon in Space, Planets Are On it/Double Job, der Live-Besetzung von Warm Graves und der Geheimtipp, der immer gut ankommt. Mit sieben Songs schichten Dolphins nun hitzige, charmant-verstrickte Klangtexturen durchdacht über- und nebeneinander. Keine Nuance der 26 Minuten dauernden Musik ist austauschbar – »TBH« ist, um ehrlich zu sein, eine wirklich coole Platte. Claudia Helmert

Nadja Zwiener/Johannes Lang

Nadja Zwiener/Johannes Lang

1723

1723

Die Jahreszahl als Motto der CD verheißt eine klangliche Zeitreise. In das Jahr 1723 fällt Bachs Amtsantritt als Thomaskantor. Aber auch beide Instrumente, die hier erklingen, wurden in diesem Jahr gebaut. Unter den Händen der renommierten Barockviolinistin Nadja Zwiener erstrahlt die obertonreiche italienische Violine von David Tecchler und Bach selbst weihte noch im Herbst 1723 die Orgel in der Kreuzkirche in Störmthal bei Leipzig ein, die hier von Thomasorganist Johannes Lang gespielt wird. Die Kombination mit Orgel bringt hier eine andere, eine besondere, warme Farbsättigung in ein Repertoire, bei dem die Wahl des Tasteninstrumentes heute zumeist auf das Cembalo fällt. Der Heimat der Instrumente nachgehend, erklingen neben Bach und Pisendel aus Mitteldeutschland die Italiener Corelli und Bertali, Barockkomponisten aus Bachs Vorgänger-Generation. Die hier eingespielten Bach-Sonaten BWV 1021 und 1023 sind im Gegensatz zu den weitaus bekannteren Sonaten für Violine und Cembalo BWV 1014–1019 lediglich mit beziffertem Generalbass unterlegt. Auch Bibers Violinsonaten von 1681 stehen zu Unrecht im Schatten seiner ungleich bekannteren Rosenkranzsonaten. Mit ihrem facettenreichen Spiel lässt Nadja Zwiener die Überraschungen und unverhofften Wendungen dieser im sogenannten Stylus Phantasticus komponierten Musik ebenso lebendig werden, wie sie die Abwechslung kontemplativer Situationen und virtuoser Erregung auskostet. In strahlender Größe und sattem Volumen präsentiert sich die ansonsten kammermusikalisch agierende Orgel im festlichen Präludium und der Fuge aus der Triosonate BWV 545/529. Hier ist im Mittelsatz, dem Largo in einem Arrangement von Johannes Lang für Violine und Orgel, ein interpretatorisch außergewöhnlicher Moment erreicht. Unter Einsatz des Tremulanten entsteht ein Vibrato in der Orgel, das von der Violine aufgegriffen wird. Eine klangliche Entscheidung der Interpreten, die unerwartet fragil und emotional wirkt und noch einen Schritt hervortritt (...) Anja Kleinmichel

Wollenberg/Müller/Hanke

Wollenberg/Müller/Hanke

Versunken

Versunken

Leipzigs Urgestein Jens-Paul Wollenberg (auf dem kreuzer-Cover 11/2022) deklamiert hier rauschhaft seine lebensphilosophischen Dichtungen von Einsamkeit, Liebe, Ungewissheit und Sehnsucht über trocken verstimmten Barpianoklängen von Josef Müller. Ab und an pfeift farbenreich Thomas Hankes Mundharmonika vorbei. Es ist förmlich zu spüren, wie wohl sich Wollenberg in seinem ureigenen melodramatischen Stil mit hohem Amplitudenausschlag fühlt. Zwischen Intimität und Enthemmtheit der Lieder wähnt sich der Hörer zu Gast im Wohnzimmer der Musiker, gebannt von der Atmosphäre ihres unmittelbaren Stils. Und es scheinen in diesem Raum auch andere Leute zu sein, die am Ende der CD plötzlich anfangen mitzusingen. Die Mischung aus befreiten Gedanken, Klängen und Wortwitzen präsentiert sich in teils fantastischen Songformaten. Das ganze Projekt atmet Freiheit, ist räudig und fein zugleich. Anja Kleinmichel

Anamorphosis

Anamorphosis

Anamorphosis

Anamorphosis

Streamingdienste verändern nicht nur die Art, wie wir Musik hören, sondern auch die Musik selbst. Im ständigen Kampf um Streams werden Lieder gekürzt und Refrains an den Start vorgezogen. Nicht so bei Anamorphosis: Mit seinem gleichnamigen Debütalbum liefert das Instrumental-Sextett um den Saxofonisten und Klarinettisten Johannes Moritz die erfrischende Antithese. Langsam und melancholisch beginnt »Birds Eye View«, das erste Stück auf dem Album. Das Cello klagt und schafft weite Landschaften fiktiver Länder, bevor das Vibrafon rhythmisch zu fragen beginnt. Mit dem Einsetzen des Ensemble-Rests blendet das Stück auf: Es folgen explorative und rhythmische Geschichten, die nicht linear angesiedelt sind. Das Ergebnis ist ein Wechselbad der Emotion, das einen in einem Moment noch grooven, im nächsten schon die Welt erkunden lässt. Dem Konzept bleibt das Ensemble über das Album hinweg treu, die Musik ist häufig nachdenklich und mystisch, mal schneller und doch nie übereilt. Nicht jedes Stück funktioniert gleich gut, doch lässt die nicht einfach zu spielende Musik am Können der Musiker und Musikerinnen keinen Zweifel. In dem Album würden außermusikalische Themen, vor allem Perspektivwechsel, eine starke Rolle spielen, meint Johannes Moritz. Ob man diese Themen raushört, das obliegt dem Publikum. Einen Versuch oder Konzertbesuch wäre es wert. Jonas Strehl